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Klassenkampf für Fortgeschrittene

Wie die Mehrheit der ‚Wirtschaftsweisen‘ die Rente der arbeitnehmerischen Mitte angreift

Der Sachverständigenrat (SVR) unterbreitet in seinem aktuellen Jahresgutachten weitgehende Vorschläge zur Rentenreform, spricht dabei allerdings nicht mit einer Stimme. Drei der fünf Mitglieder des SVR vertreten Forderungen nach zum Teil drastischen Leistungseinschränkungen in der gesetzlichen Rentenversicherung, während zwei teilweise oder grundsätzlich andere Positionen haben. So sieht die knappe Mehrheit des SVR das umlagefinanzierte Rentensystem dem demographischen Wandel nicht gewachsen und hält eine Kombination verschiedener einschneidender Maßnahmen für nötig:

  • ein mit der Lebenserwartung steigendes Rentenalter
  • mehr kapitalgedeckte Vorsorge
  • eine weitere Abkopplung der Renten von den Löhnen
  • faktisch die Abschaffung der Witwen- bzw. Witwerrente, weil diese u.a. ein Hemmnis für die Erwerbstätigkeit potentieller Zweitverdiener:innen sei.

Bereits diese Vorschläge würden Beschäftigte hart treffen (siehe u.a. hier, hier und hier). Doch die Mehrheit des SVR geht noch weiter. Vorgeschlagen wird ein Eingriff in das Äquivalenzprinzip zu Lasten der Versicherten und damit in das Herzstück des Umlageverfahrens der Rentenversicherung. Dieses Prinzip besagt, dass die Höhe der Renten sich an den geleisteten Beiträgen orientiert. Vereinfacht gesagt: Wer mehr verdient und in die Rentenkasse einzahlt, der bekommt später auch eine höhere Rente. Mit diesem Grundsatz zu brechen, ist aus sozialpolitischer wie gewerkschaftlicher Sicht brandgefährlich. Nicht von ungefähr widersprechen in diesem Punkt zwei der fünf SVR-Mitglieder. Aber der Reihe nach.

Deutschland könnte sich gute Renten leisten

Zu Beginn der Ausführungen zur Rente offenbart das Gutachten einen elementaren Moment der Klarheit und Wahrheit. Nachdem zunächst auf den nahenden Renteneintritt der geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge und das damit verbundene Finanzierungsproblem hingewiesen wird, steht im zweiten Absatz der Einleitung zum Renten-Schwerpunkt folgender Satz: „Dieses (Finanzierungs-) Problem resultiert nicht aus der Höhe der in Zukunft anfallenden Rentenausgaben, absolut oder im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt.“ Das heißt im Klartext: Die Höhe der Rentenausgaben an sich ist auch in Zukunft kein Problem. Genauer gesagt: Insbesondere im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt ist die Höhe der künftigen Ausgaben für Renten kein Problem. Die Schwierigkeit besteht aus Sicht des SVR lediglich darin, dass ein höherer Anteil von Rentenbeziehenden an der Gesamtbevölkerung im Umlageverfahren aus Rentenbeiträgen eines geringer werdenden Anteils von Beschäftigten finanziert werden müsse. Und hier liegt des Pudels Kern: der gesellschaftliche Wohlstand vermehrt sich weiterhin stetig, auch bei einem geringer werdenden Anteil Erwerbstätiger. Es ist also grundsätzlich unproblematisch, aufgrund der eher wachsenden Wertschöpfung der Volkswirtschaft und gleichzeitig einer eher sinkenden Bevölkerungszahl dem ansteigenden Kreis an Rentenbeziehenden ein auskömmliches und lebensstandardsicherndes Alterseinkommen zu verschaffen.

Das Problem entsteht selbst aus Sicht einer Mehrheit im Sachverständigen erst, weil das Alterseinkommen nicht aus dem insgesamt vorhandenen Reichtum, sondern weitgehend lediglich aus den Rentenversicherungsbeiträgen der abhängig Beschäftigten bestritten werden muss. Diese Problembeschreibung sehen auch die Gewerkschaften des DGB als eine ernste Herausforderung. Doch während Gewerkschaften solidarische Reformantworten präsentieren (mehr dazu unten), zielt der Vorschlag der Mehrheit des SVR in eine ganz andere Richtung.

Angriff auf das Äquivalenzprinzip in der Rentenversicherung

Zwar wird an den Gedanken der Umverteilung angeknüpft, allerdings in einem ganz anderen Sinn als ihn Gewerkschaften hegen. Unter dem Begriff der intragenerationellen Umverteilung stützen drei von fünf Sachverständigen folgenden Vorschlag: Die Rentenausgaben sollen insgesamt deutlich gekürzt werden, indem auf jeden Euro, den Versicherte oberhalb des Durchschnittseinkommens verdienen, zwar der volle Beitrag zur Rentenversicherung abgezogen, dieser aber nicht mehr voll, sondern nur noch anteilig gutgeschrieben wird. Bei Einkommen beispielsweise für die bislang zwei Entgeltpunkte erworben werden, sollen in dem vorgeschlagenen Modell künftig nur noch 1,5 Entgeltpunkte erworben werden – mit entsprechenden Auswirkungen auf die spätere Rente. Bei einem aktuellen Durchschnittseinkommen von 43.142 Euro trifft diese Spar-Idee alle Menschen, die mindestens Tätigkeiten auf Facharbeiter-Niveau ausüben. Achim Truger – einer der beiden Wirtschaftsweisen, die den Vorschlag nicht unterstützen – illustriert, dass hier von Beschäftigten mit einem Nettoeinkommen von 2620 Euro pro Monat bei Steuerklasse 1 die Rede sei.

Die gesetzliche Rente, die für die übergroße Mehrheit der Beschäftigten das grundlegende Instrument der Alterssicherung darstellt, wäre bei Umsetzung dieses Vorschlags ihrer essentiellen Funktion beraubt. Faktisch würde die Rentenversicherung zu einer reinen Basisabsicherung gegen Armut umgebaut. Ohne massive zusätzliche private Vorsorge wäre für viele Beschäftigte ein erheblicher sozialer Abstieg im Alter unausweichlich. Wenn das Rentensystem aber vielfach einen Absturz im Lebensstandard oder gar Altersarmut nicht verhindert, verliert es in der Folge fast zwangsläufig an Akzeptanz und Legitimation. Der Raubbau würde zudem nicht zuletzt denjenigen in die Hände spielen, die den Ausbau kapitalgedeckter Elemente in der Alterssicherung propagieren.

Uneinigkeit im Sachverständigenrat

Die Vorschläge haben es also in sich und sind bereits innerhalb des SVR-Gremiums umstritten. Die Sachverständige Monika Grimme teilt grundsätzlich Analysen und Kürzungsvorschläge der Ratsmehrheit. Insbesondere den Angriff auf das Äquivalenzprinzip lehnt sie jedoch entschieden ab. Die Aufgabe des Äquivalenzprinzips widerspräche nicht nur dem Versicherungsprinzip, sondern dem liberalen Credo, wonach Leistung und Gegenleistung stets in einem proportionalen Verhältnis stehen müssen, und die umverteilende Wirkung entfalte sich nicht zielgenau bei Bedürftigen. Der Sachverständige Achim Truger formuliert eine fundamentalere Kritik am Reformkonzept des SVR, die bereits bei der Problembeschreibung ansetzt. Er arbeitet die drastischen Kürzungen heraus, die das vom SVR empfohlene Maßnahmenpaket bedeuten würden – inklusive einer deutlichen Mehrbelastung der jungen Generation, die für eine hinreichende Alterssicherung neben den Rentenbeiträgen hohe Sparbeträge an den Finanzmärkten anlegen müssten. Die hohen Renditeerwartungen an den Aktien- und Anleihemärkten stellt er dabei ebenfalls infrage.

Gute Renten in einer alternden Gesellschaft sind möglich

Die Herausforderung, in einer alternden Gesellschaft auch künftig gute Renten zahlen zu können erkennen auch die Gewerkschaften an. Auch die IG Metall fordert daher ein ganzes Bündel an Maßnahmen, um das Rentensystem auch zukünftig auf feste Beine zu stellen und das Leistungsziel der Lebensstandardsicherung wieder in den Blick zu nehmen.

Hierzu gehören zum einen Veränderungen am Arbeitsmarkt: Mit einer deutlichen Erhöhung des Mindestlohns, einer Zurückdrängung von Befristungen, Minijobs, Leiharbeit und einer Stärkung von Tarifverträgen könnten durch gute Entlohnung nicht nur die Einnahmen der Rentenversicherung deutlich gesteigert werden – perspektivisch hätten hunderttausende von Beschäftigten weniger Sorgen vor Altersarmut.

Erforderlich sind aber auch Reformen im Rentensystem, um den oben genannten Herausforderungen zu begegnen und das Ziel der Lebensstandardsicherung wieder zu erreichen. Hierzu gehört eine Stabilisierung und Erhöhung des Rentenniveaus. Ebenso braucht es Schritte in Richtung Erwerbstätigenversicherung.  Wir brauchen die Einbeziehung aller Erwerbstätigen in das Solidarsystem der Deutschen Rentenversicherung. Das – und nicht das herunterdämpfen der eigenen Rentenanwartschaften wäre echte intragenerationelle Gerechtigkeit! Und wir brauchen einen neuen Finanzierungsmix aus Beiträgen und Steuern.

Es geht um eine Grundsatzfrage

Soll die gesetzliche Rente nur noch eine Mindestsicherung sein? Oder verteidigen wir das Ziel, den Lebensstandard der Menschen zu sichern? Die IG Metall steht eindeutig für die zweite Variante! Wenn sich der gesellschaftliche Reichtum zunehmend in wenigen Händen konzentriert, dann muss eine substantielle Umverteilung stattfinden, auch zugunsten aller Versicherten in der Rentenversicherung.