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Bundesverfassungsgericht

Solidarische Grundsicherung statt Hartz IV

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: die Hartz IV Sanktionen sind in großen Teilen verfassungswidrig. Die Bundesregierung hat einen klaren Auftrag bekommen, hier nachzubessern. Sie tut gut daran, nicht nur minimale Reformen durchzuführen. Es ist Zeit für eine solidarische Grundsicherung, die Erwerbslose nicht entmündigt und prekärer Arbeit nicht weiter Vorschub leistet.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit der Frage beschäftigt, ob durch die bestehenden Sanktionen bei Hartz IV das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ausgehebelt wird. Dabei hat das Karlsruher Gericht nicht alle Sanktionen geprüft. Verhandelt wurde über die bei sogenannten Pflichtverletzungen (z.B. Nichtaufnahme eines Arbeitsangebots) vorgesehenen Kürzungen von 30, 60 oder sogar 100 Prozent. Die 10 Prozent Kürzungen bei Meldeversäumnissen (z.B. Nichteinhaltung eines Termins) und die verschärften Sanktionen bei unter 25-Jährigen waren dagegen nicht Gegenstand der Verhandlung.

In weiten Teilen verfassungswidrig

In seinem Urteil vom 5.11.2019 hat das oberste Gericht nun die bei Pflichtverletzungen drohenden Leistungskürzungen in weiten Teilen für verfassungswidrig erklärt. Grundsätzlich seien Sanktionen zwar möglich, der Spielraum sei aber begrenzt, weil es um das Existenzminimum geht. Vor diesem Hintergrund urteilten die Richterinnen und Richter, dass nach aktuellem Stand Kürzungen von mehr als 30 Prozent nicht mehr verhältnismäßig sind. Die derzeit existierenden Kürzungen von 60 oder 100 Prozent verstoßen gegen die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip.
Zudem erklärte das Gericht auch die aktuellen Modalitäten für zu rigide: Bisher werden die Sanktionen pauschal für drei Monate verhängt – unabhängig von individuellen Situationen oder auch davon, ob eine betroffene Person ihre Mitwirkungspflicht nachträglich erfüllt. Dies würde dem Einzelfall und möglichen individuellen Härtefällen nicht gerecht.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist ein klarer Auftrag an den Gesetzgeber: er muss die Sanktionspraxis neu und nachvollziehbar regeln. Durch das Urteil sind dadurch klare Grenzen gesetzt. Zudem stellte das Gericht auch klar: es muss anders als bisher nachgewiesen werden, dass Sanktionen helfen, die Hilfebedürftigkeit zu beenden. Sollen sie hingegen allein dazu dienen, repressiv Fehlverhalten zu ahnden, also Arbeitslose zu bestrafen, sind sie nicht zulässig.

Das Gericht hat auch die für den Übergang geltenden Leitlinien geregelt: Bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber sind Kürzungen um maximal 30 % des Regelsatzes weiterhin möglich. Allerdings müssen die Jobcenter den Einzelfall im Blick haben, also prüfen ob Härtesituationen vorliegen. Und im Falle einer nachgeholten Mitwirkung müssen die Kürzungen zeitnah beendet werden.

Qualifizierung und Unterstützung statt Strafe

Das Urteil ist ein wichtiger Schritt um das Sanktionsregime und das der Grundsicherung seit den Hartz-Reformen innewohnende problematische Menschenbild zu überwinden. Die Vorstellung, Menschen durch Sanktionen in Arbeit zu bringen, geht an der Wirklichkeit vorbei. Die Praxis zeigt: Es mangelt den Betroffenen in der Regel nicht an Arbeitsmotivation und auch nicht an der Bereitschaft, Zugeständnisse bei einer angebotenen Tätigkeit zu machen. Vielmehr sind es häufig andere Schwierigkeiten, wie soziale Problemlagen und andere Vermittlungshemmnisse, die dem Einstieg in Arbeit im Weg stehen. Sanktionen fördern hier nicht die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt, sondern führen im Gegenteil dazu, dass die Betroffenen das Vertrauen in die Jobcenter und den Sozialstaat verlieren und sich komplett zurückziehen. Statt auf Sanktionen sollte stärker auf Angebote und Beratung gesetzt werden.

Hartz IV als Drohkulisse

Die volle Tragweite des Sanktionsregimes wird zudem erst deutlich, wenn man die Wechselwirkung mit den Zumutbarkeitskriterien betrachtet: Die Zumutbarkeitskriterien führen dazu, dass jede Arbeit zumutbar ist, es sei denn, sie ist sittenwidrig und die Sanktionen entfalten den entsprechenden Druck, dass die Hartz IV-Beziehenden diese auch annehmen. Das Sanktions- und Zumutbarkeitsregime befördert so sozialen Abstieg, entwertet Qualifikationen und leistet prekärer Beschäftigung Vorschub. Damit schwebt es auch als Drohkulisse über den Beschäftigten. Das Urteil hilft somit nicht nur den Betroffenen, es hat auch positive Wirkungen für Beschäftigte.

Hartz IV überwinden – solidarische Grundsicherung

Das Urteil ist damit insgesamt ein wichtiger Erfolg im Kampf um die Erneuerung des sozialstaatlichen Sicherungsversprechens. Die Politik muss ihren Handlungsauftrag nun zügig umsetzen und darf diesen nicht auf die lange Bank schieben. Dabei sollte sie sich nicht darauf beschränken, hart am Rande der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung entlang zu reformieren. Nötig ist eine grundlegende Reform der Grundsicherung.

Das vorhandene Sanktions- und Zumutbarkeitsregime muss überwunden werden. Insbesondere die verschärften Sanktionen für unter 25-Jährige, denen bei der ersten Pflichtverletzung bereits der komplette Regelbedarf sowie die Kosten der Unterkunft gekürzt werden können, dürfen keinen Bestand mehr haben. Zudem muss die Konstruktion der Bedarfsgemeinschaft abgeschafft und müssen individuelle Ansprüche durchgesetzt werden. Und es braucht endlich eine Grundsicherung, die so hoch ist, dass sie tatsächlich ein soziokulturelles Existenzminimum sichert.

Das vollständige Urteil findet sich hier:
www.bundesverfassungsgericht.de/­SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/11/ls20191105_1bvl000716.html