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40 Prozent - eine Abrechnung

Warum ein sozialpolitisches Dogma endlich abgeräumt gehört

Der Sozialstaat stellt in der Corona-Krise einmal mehr seinen Wert unter Beweis. Doch das hat auch einen Preis. Nicht zuletzt in den Sozialversicherungen steigt entsprechend der Finanzdruck, teils klaffen Milliardenlöcher. Ursache sind nicht nur, aber eben auch die Pandemiekosten. Spätestens nach dem obligatorischen Kassensturz der neuen Bundesregierung stellt sich jedoch die Frage, wie die bestehenden und noch kommenden offenen Rechnungen beglichen werden. Aus dem Arbeitgeber(nahen)-Lager ertönen bereits laute Rufe, die in der Sozialgarantie 2021 gesetzte 40 Prozent-Obergrenze der Gesamtsozialbeiträge auch für die Zukunft festzuzurren. Mitgeliefert werden Sozialkürzungsvorschläge, mittels derer dies gelingen soll. Dabei sind die Argumente für die 40 Prozent bei Lichte betrachtet erstaunlich schwach. Die Umsetzung der Forderung wäre indes fatal: Ein Überwälzen der Kosten sowie der Verantwortung für soziale Sicherheit auf die Einzelnen und damit ein Schub gesellschaftlicher Entsolidarisierung wären die Folge. Höchste Zeit, das sozialpolitische Dogma der 40 Prozent abzuräumen.

 

40% - Dogma ohne Fundament

Die 40 Prozent Grenze ist nicht neu. Als Marke für eine Obergrenze der Sozialversicherungsbeiträge taucht sie erstmals Mitte der 1990er Jahre auf, in der gemeinsamen Erklärung des ‚Bündnisses für Arbeit und Standortsicherung‘: „Den Sozialstaat zu sichern und zu festigen ist gemeinsames Ziel und gemeinsame Aufgabe. Seine Finanzierungsgrundlagen müssen durch Reformen erhalten bleiben. Die Sozialbeiträge insgesamt und die Sozialabgabenquote müssen stabilisiert und bis zum Jahr 2000 wieder auf unter 40 Prozent zurückgeführt werden. Eigenvorsorge muß ein wachsendes Gewicht erhalten.“ Seither hat sich die 40 Prozent-Marke als Dogma festgesetzt. Das zentrale Argument ist dabei über die Jahre gleichgeblieben: Steigen die Sozialabgaben auf über 40 Prozent, koste dies Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze. Bei genauer Betrachtung erweist sich dies als wenig fundiert:

 

Projektionen sind mit Unsicherheiten behaftet

Die Hüter der 40 Prozent verweisen auf Studien, die für die Zukunft einen deutlichen Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge vorhersehen, welche – wenn nicht gegengesteuert wird – mit erheblichen Wettbewerbs- und Beschäftigungseinbußen verbunden seien. Dazu ist zu sagen: Solche Studien arbeiten mit Szenarien und Projektionen, die wiederum auf einer Reihe von Annahmen beruhen. Diese können so eintreten, es kann aber auch anders kommen. Weit in die Zukunft gerichtete Aussagen über wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen sind dementsprechend keine Gewissheiten, sondern mit erheblichen Unsicherheiten verknüpft

 

Die Belastungsfrage ist auch eine Frage der Betrachtung

Aber selbst wenn es zu Beitragssteigerungen kommt, sind die prognostizierten Auswirkungen belegbedürftig. Das Argument ist altbekannt: Steigende Sozialversicherungsbeiträge trieben die sogenannten Lohnnebenkosten über Gebühr und die Belastungsfähigkeit der Unternehmen in die Höhe. In der Tat machen die Sozialversicherungsbeiträge zwar den größten, aber doch nur einen Teil der Lohnnebenkosten aus und diese wiederum nur einen Teil der gesamten Arbeitskosten, also der Gesamtheit aller dem Arbeitgeber im Zusammenhang mit Beschäftigung entstehenden Aufwendungen. Wählt man die Gesamtarbeitskosten als Bezugsgröße, relativiert sich die Dramatik. Am Beispiel der durchschnittlichen gesamten Bruttoarbeitskosten im produzierenden Gewerbe in den Werten von 2016 zeigt Florian Blank auf, dass ein Anstieg der Sozialbeiträge in der Zeit von 2020 bis 2040 um zehn Prozentpunkte in etwa zu einem Anstieg der Bruttoarbeitskosten von insgesamt 3,2 Prozent führen würde, wohlgemerkt gestreckt auf einen Zeitraum von 20 Jahren. Dramatische Szenarien über Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze erscheinen vor diesem Hintergrund überhöht.

 

Internationale Wettbewerbsfähigkeit ist eine komplexe Angelegenheit

Für die Frage der internationalen Wettbewerbsfähigkeit eignet sich wenn überhaupt, ein Vergleich der Lohnstückkosten – also der Arbeitskosten im Verhältnis zur Arbeitsproduktivität. Je nach Vergleich (EU, international, Länderauswahl) nimmt Deutschland dabei in der Regel einen Platz im oberen Drittel bis Mittelfeld ein. Allerdings liegen vergleichbare Volkswirtschaften wie Frankreich oder Großbritannien ähnlich bzw. sind sogar vor Deutschland platziert. Vor allem aber gilt, dass für die Frage der internationalen Wettbewerbsfähigkeit auch noch eine Reihe weiterer Faktoren entscheidend sind - wie Wechselkurse, Zölle, Steuern, das Vorhandensein von Fachkräften, Produktivität, Produktinnovation und -qualität, Infrastruktur oder das System industrieller Beziehungen. Eine Fokussierung bei Wirkungsfragen auf einen Faktor ist damit unterkomplex.

 

Reaktionsmöglichkeiten auf steigende Sozialversicherungsbeiträge sind vielfältig

Arbeitsplatzabbau und Rationalisierung sind nur zwei Optionen. Ganz unabhängig, wie man sie in der Sache bewertet, wären Preiserhöhungen für Kunden, Versuche der ‚Einpreisung‘ bei der Entgeltentwicklung oder die Reduzierung der eigenen Gewinne weitere Reaktionsmöglichkeiten. Welcher Weg am Ende beschritten wird, hängt etwa von der konkreten Situation eines Unternehmens, der Position in der Branche und nicht zuletzt auch von Machtverhältnissen im Betrieb ab.

 

Quintessenz: 40 Prozent-These nicht haltbar

Die These, dass Sozialversicherungsbeiträge über 40 Prozent per se ein Wettbewerbsnachteil sind und Arbeitsplätze gefährden, ist so nicht empirisch nachweisbar. Zu komplex ist letztlich die Lage, weil viele Faktoren einen Einfluss auf Kosten und so auch auf Produktions- und Standortentscheidungen haben. Daraus folgt kein Plädoyer für eine Beliebigkeit der Beitragshöhe und auch kein Wegwischen jegliches Belastungsarguments. Wohl aber eine Absage an die Seriosität einer dauerhaften Festlegung auf eine allgemeingültige Maximalhöhe der Sozialversicherungsbeiträge, deren Überschreitung ‚bedrohlich‘ wäre – seien es nun 39, 40 oder 42 Prozent.

 

Die gute alte Verteilungsfrage

Wenn das Schicksal der deutschen Wirtschaft sich also gar nicht an der 40-Prozent-Grenze entscheidet, worum geht es dann? Die Antwort ist schlicht: Im Kern geht es um die gute alte Verteilungsfrage. Die Sozialbeiträge werden paritätisch und damit auch anteilig durch die Arbeitgeber finanziert. Der Ruf nach der Obergrenze 40 zielt darauf, sich mit Blick auf die Begleichung der bestehenden Rechnungen und auch die zukünftige Finanzierung sozialer Sicherung aus der Affäre zu ziehen. Die Beschäftigten und insbesondere die Jüngeren können dies nicht gleichermaßen. Wollen sie bestehende und drohende künftige Lücken sozialer Sicherheit nicht hinnehmen, müssen sie privat vorsorgen – allein. Die durch niedrig gehaltene Beitragssätze vergleichsweise wenigen monatlich ‚hinzugewonnene‘ Euros beim Nettoentgelt müssen sie damit an anderer Stelle teuer bezahlen. Ein schlechtes Geschäft, bei dem nur die Arbeitgeber gewinnen. Gerade vor dem Hintergrund der aktuell wieder zunehmenden Rufe zur Rückkehr zur schwarzen Null und der stetigen Unterfütterung des 40 %-Dogmas gilt es sich auf harte Konflikte vorzubereiten.