Was den Scheinriesen Tur Tur und die Rentensteigerung 2022 verbindet

Jedes Jahr im Herbst gibt es die vorläufige Schätzung zur Entwicklung der Finanzen der Rentenversicherung und den Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung. Und obwohl die Tinte nicht mal trocken ist, gibt es erste Meldungen, wie die Rentensteigerungen im nächsten Jahr ausfallen könnten und erste Kommentare, was davon zu halten sei. So auch in diesem Jahr: Um die 5 bis 6 Prozent Rentensteigerung scheinen möglich. Aber sicher ist das nicht! Wie sich die letzten Monate des Jahres entwickeln, bleibt ungewiss. Gerade in Corona-Zeiten sollte allen klar sein, dass die vierte Welle im Herbst, die wirtschaftlichen Kennzahlen des Jahres durchaus auch noch verändern kann.

Doch wenn sich die Wirtschaftsdaten so bleiben wie unterstellt, dann muss tatsächlich im Sommer 2022 von einer Rentensteigerung von rund 5 und 6 Prozent ausgegangen werden. Wie kann das sein? Die Rentenwicklung folgt doch zu einem guten Teil der Lohnentwicklung? Und die Löhne sind von 2020 auf 2021 um rund 3 Prozent gestiegen. Laufen also die Renten den Löhnen davon?

 

Lohnfaktor und Nachhaltigkeitsfaktor schwanken durch Kriseneffekte hin und her

Die Antwort auf die Frage ist leider etwas komplizierter. Der Lohnfaktor in der Rentenanpassungsformel basiert auf dem Zusammenspiel von VGR-Löhnen (Löhn aus der volkwirtschaftlichen Gesamtrechnung) und RV-Entgelten (Entgelte wie sie für die Rentenversicherung verbeitragt werden). Die Veränderung der VGR-Löhne wirkt sich unmittelbar bei der Rentenanpassung des darauffolgenden Jahres aus. Bei der Rentenanpassung des übernächsten Jahres wird dann der Unterschied zwischen den beiden Veränderungsraten von VGR-Löhnen und RV-Entgelten durch einen Korrekturfaktor ausgeglichen.

Wichtig in unserem Fall: In 2020 gingen die VGR-Löhne gegenüber 2019 zurück. Entgeltkürzungen, Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit sind dabei bedeutende Effekte. Das hat auch die Rentenanpassung in 2021 gedämpft. Am Ende gab es eine Nullrunde für die Rentnerinnen und Rentner. Doch die VGR-Löhne geben nur ein unvollständiges Bild davon, was in den Taschen der Beschäftigten ankommt und was an Beiträgen in die Rentenkasse fließt. So kommt etwa das Kurzarbeitergeld als relevanter Faktor dazu. Mit anderen Worten: Wer in KUG-0 ist, hat keinen Lohn (geht folglich auch mit null Lohn in die VGR-Statistik ein). Aber sein Kurzarbeitergeld ist eine Lohnersatzleistung, die ihm zufließt und auf die auch Beiträge zur Rentenversicherung gezahlt werden. Schaut man auf die Entwicklung der beitragspflichtigen RV-Entgelte sind die in 2021 gegenüber 2020 nicht gesunken, sondern gestiegen. Um die Rentnerinnen und Rentner nicht zu benachteiligen, muss das in 2022 nachgeholt werden. Dieser Effekt dürfte bei der Rentensteigerung des kommenden Jahres um rund 2 Prozent heben. Für die Rentenerhöhung 2022 mischen sich also die Lohnentwicklung von 2021 und der Korrekturfaktor für 2020. Neben den rund 3 Prozent aus 2021 kommt ein weiteres Plus aus dem Korrekturfaktor dazu: Alleine dadurch ergibt sich schon ein Plus von rund 5 Prozent.

Auch der Nachhaltigkeitsfaktor wird durch krisenbedingten Verzerrungen und die Besonderheiten der Rentenformel beeinflusst. Auch hier spielen neben der Zahl der Beschäftigten und der Rentner*innen bei der Berechnung die VGR-Entgelte und die Durchschnittsentgelte eine Rolle. Endgültiges Durchschnittsentgelt und vorläufiges Durchschnittsentgelt verhalten sich unterschiedlich. Auch diese Statistikprobleme wirken sich bei der Berechnung aus.

 

Die Renten laufen den Löhnen nicht davon!

So groß die krisenbedingten Verzerrungen und Sprünge in den einzelnen Jahren auch sein mögen. In gewisser Hinsicht gleichen sich die Effekte im Zeitablauf wieder aus (siehe Schaubild oben).

So muss man davon ausgehen, dass über den Zeitraum von 2019 bis 2025 die Renten um 15,6 Prozent steigen; das macht jährlich rund 2,5 Prozent. Und wie verhält es sich bei den Löhnen? Die Löhne würden im Zeitraum 2019 bis 2024 (die Rente folgt der Lohnentwicklung des Vorjahres) um 16,9 Prozent bzw. jährlich um 2,6 Prozent steigen. Die Renten laufen den Löhnen also nicht davon!

 

Der ausgesetzte Nachholfaktor taugt nicht als Sündenbock!

Ein Teil der Medien und der Wirtschaftslobby hat sich auf den Nachholfaktor eingeschossen. Ihn im Rahmen der Rentengarantie auszusetzen sei die Ursache dafür, dass nun Rentner*innen übermäßig profitierten. Eigentlich hätte es im letzten Jahr eine Rentenkürzung geben müssen, die müsste, wäre der Nachholfaktor noch in Kraft, in 2022 nachgeholt werden. Die maßgeblichen Löhne sind in 2021 gegenüber 2020 um 0,26 Prozent gesunken.[1] Wenn der Nachholfaktor die Lohnentwicklung ausgleichen soll, würde in 2022 die Rentenerhöhung um diese 0,26 Prozent geringer ausfallen.

 

Eine Frage des Niveaus

Doch die Protagonisten des Nachholfaktors wollen im nächsten Jahr die mögliche Rentensteigerung noch weiter drücken. Sie wünschen sich die Wirkung der Dämpfungsfaktoren zurück. Diese sollen mittel- und langfristig die Entwicklung der Renten von der allgemeinen Lohnentwicklung abkoppeln. Seit der Rentenreform 2004 hat das bis heute zu einer Senkung des Rentenniveaus von rund 53 Prozent auf rund 48 Prozent geführt (Sicherungsniveau vor Steuern). Es war eine politische Entscheidung bis 2025 eine Haltelinie einzuziehen, um ein weiteres Zurückbleiben der Renten im Vergleich zu den Löhnen zu verhindern.

Am Ende geht es bei dem aktuellen Streit nicht darum, ob sich in der Krise die Renten besser entwickeln als die Löhne. Am Ende geht es darum, welches Rentenniveau man anpeilt. Während die einen auf eine weitere Absenkung des Niveaus und den Ausbau privater Vorsorge bestehen, plädieren die anderen für eine Stärkung der gesetzlichen Rente. Zu letzteren gehört auch die IG Metall. Sie setzt sich dafür ein, dass das Rentenniveau wieder angehoben wird und Renten und Löhne sich auf dieser Basis im Gleichklang bewegen.

 

[1] Wenn man den Revisionseffekt rausrechnet. Der Revisionseffekt ist ein statistischer Effekt der dadurch entsteht, dass seit 2017 Beschäftigungsverhältnisse im Rentenbezug in die Versichertenstatistik einbezogen werden. Das führt rechnerisch zu einem niedrigeren Durchschnittsentgelt. Die so revidierten Werte haben einen negativen Effekt auf die Rentensteigerung von rund 2 Prozentpunkten.