Ein Jahr Sozialpolitik in der Corona-Krise

"Zukunftsrealismus statt Vor-Krisen-Romantik"

 

Die Corona-Krise macht Gesellschaft und Politik weiter zu schaffen. Dies gleich in mehrfacher Hinsicht. Mit rasantem Tempo steigen die Indikatoren der Pandemie, also Fallzahlen, 7-Tage-Inzidenz und R-Wert. Die geplanten und bereits realisierten Lockerungen laufen dieser Entwicklung diametral entgegen. Dieser Widerspruch befeuert den allgemeinen Akzeptanzverfall der Krisenpolitik. Gastronomie, Kulturbranchen, Einzelhandel fühlen sich als Lastesel der Pandemie während Teile der Industrie von genesenen Exportmärkten profitieren und Internet- und Logistikkonzerne Rekordprofite einfahren. Das Ansehen der politischen Repräsentanten schmilzt wie Schnee in der Frühlingssonne. „Masken-Affären“ sowie die epidemiologisch absolut sinnvolle, politisch aber vermasselte „Osterruhe“ beschleunigen den Prozess.

Und dann die Krise der Politik. Der Föderalismus blockiert sich selbst und tappt ein ums andere Mal in Kompetenz- und Legitimationsfallen. Die Verteilung von Schließungsvorgaben und Öffnungserlaubnissen wirkt hektisch bis chaotisch. Insgesamt kann die Politik, einem Bonmot Joseph A. Schumpeters folgend, mit einem Reiter verglichen werden, der durch den Versuch, sich im Sattel zu halten, so in Anspruch genommen wird, dass er keinen Plan für seinen Ritt aufstellen kann.

 

Stürmische Zeiten, auch für die Gewerkschaften

Verwirrende Zeiten also. Doch nicht nur die Politik, auch die Gewerkschaften müssen für sich entscheiden, wohin ihre Reise gehen soll. In der Corona-Pandemie erhöhen Kurzarbeit und drohende Arbeitsplatzverluste Zukunftsängste und Erwartungen der Mitgliedschaft. Zugleich erschweren Hygienevorschriften und „social distancing“, aber auch ortsflexibles Arbeiten im Home-Office Erfahrungsaustausch und Mobilisierung. Zwar stellt die IG Metall in den aktuellen Tarifrunden eindrucksvoll unter Beweis, dass selbstbewusste und phantasievolle Interessenvertretung auch in der Pandemie möglich ist.

Doch auch die gewerkschaftliche Arbeits- und Sozialpolitik steht vor der anspruchsvollen Aufgabe, sich in dieser unübersichtlichen Konstellation aus Krisendruck, Mitgliedererwartungen und Zukunftsaufgaben zu positionieren. Die Corona-Krise mag die drohende Klimakatastrophe, Umbrüche in der Weltwirtschaft, die Neujustierung des Sozialstaates, auftrumpfenden Rechtsradikalismus und nicht zuletzt die Stabilisierung gewerkschaftlicher Organisationsmacht aus den Schlagzeilen verdrängt haben. Doch nur vorläufig. Wenn sich der Nebel der Pandemie gelichtet haben wird, werden diese Jahrhundertherausforderungen umso deutlicher sichtbar werden.

 

Leitplanken einer aggressiven Reformpolitik

Was das für eine offensive Sozialstaatspolitik (nicht nur) der Gewerkschaften bedeutet, muss diskutiert werden. Schnellen Antworten sollte misstraut, offene Diskursangebote sollten begrüßt werden. So unübersichtlich die Lage auch sein mag, drei Behauptungen sollen auf- und zur Diskussion gestellt werden.

Erstens: Naive Vor-Krisen-Romantik muss umgehend einer offensiven Reformorientierung weichen. Bei allen Akteuren. Ein radikaler Zukunftsrealismus ist gefragt. Das bedeutet vor allem: Alle Gewerkschaftspolitik muss sich in den Prozess der ökologischen Transformation einreihen. Die energetische Basis der industriellen Wertschöpfung müssen von fossilen Brennstoffen auf grünen Wasserstoff umgestellt und Produktionsverfahren sowie Produkte Nachhaltigkeitstests unterzogen werden. Kernaufgabe der Gewerkschaften ist es, sich mit beschäftigungs- und sozialpolitischen Schutz- und Zukunftskonzepten als Interessenvertretung der abhängigen Arbeit in diesen Prozess einzuschalten.

Zweitens müssen die Strukturdefizite des gegenwärtigen Sozialstaates, die die Pandemie noch einmal bloßgelegt hat, thematisiert und politisiert werden. Nachholende Investitionen in das öffentliche Gesundheitswesen und die Einbeziehung ungeschützter (Solo-)Selbstständigkeit in die Sozialversicherungen mögen als Stichworte genügen.

Drittens darf eine solche auf große Strukturen statt auf kleine Korrekturen zielende Reformpolitik den Konflikt mit heiligen Kühen des Gegenwartskapitalismus nicht scheuen. Wenn Profit- und Wachstumszwänge Klimaschäden gigantischen Ausmaßes erzeugen, dann gehören sie an den politischen Pranger gestellt. Wenn die privatkapitalistische Eigentumsstruktur Einkommens-, Vermögens- und allgemeine Lebensverhältnisse polarisiert und die Demokratisierung der Wirtschaft blockiert, dann muss sie enttabuisiert werden. Und wenn Rassismus und Sexismus ihren Halt in der Mitte der Gesellschaft finden, dann muss auch gegenüber etablierten Parteien und Politiken Tacheles geredet werden.

Um diese Missstände sachgerecht kontern zu können, bedarf es klarer Analysen, einer deutlichen Sprache und einer offensiven Politik. Problemanalysen dürfen nicht an der Oberfläche verharren. Sie müssen aufklären und verdeckte Interessenslagen und Machtverhältnisse hinter den Kulissen nach vorne auf die Bühne ziehen.

 

Die 40 als „schwarze Null“ der Sozialpolitik

Zum Beispiel in der Sozialpolitik. Weitgehend unbeachtet von den Medien positionieren sich die deutschen Kapitalverbände, um in der Krise eine neue Ära von Verteilungskonflikten einzuleiten. Die Forderungen nach weitreichenden Leistungskürzungen in der Arbeitsmarkt-, Gesundheits- und Rentenpolitik bündeln sich im Motto: „40 – kein Prozent mehr!“. Gemeint ist die Summe der Sozialversicherungsabgaben, die Unternehmen und Beschäftigte gemeinsam tragen. Kein Prozent mehr klingt harmlos. Aber es kündigt den harten Widerstand gegen eine Sozialpolitik an, die sich im Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Gesundheitsschäden und Altersarmut mit hinreichenden Finanzmitteln ausstattet. Ökonomische Krise und erhoffte Gewerkschaftsschwäche werden offenbar als Chance ausgemacht, die Verteilungsverhältnisse neu zu ordnen.

 

Radikale Zukunftsorientierung

Soll verhindert werden, dass im Windschatten der Epidemie die „40“ zur „Schwarzen Null der Sozialpolitik“ wird, ist Gegenwehr angesagt. Wird Politik auf der Grundlage einer realistischen Problemschau gemacht, taugt nicht der Rückbau, sondern nur der Ausbau der Sozialversicherungen zu Bürgerversicherungen als Reformoption. Über einen neuen Mix aus Beiträgen und Steuern kann die Finanzbasis dieser Universalsysteme gesichert werden. Eine solche Strukturveränderung würde den Mainstream in Medien und Parteien wider den Strich bürsten. Doch um radikale Zukunftsorientierung dieser Art soll es in diesem Blog und hoffentlich bald auch in der real existierenden Sozialpolitik gehen.