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Das Drama um die Fachkräfte

Realismus statt Ideologie!

Arbeitgeber und Wirtschaftslobbyisten legen bei der Fachkräftefrage teils eine erhebliche Dramatik an den Tag. Laut einer aktuellen Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) haben mehr als die Hälfte der befragten Unternehmen Probleme, offene Stellen zu besetzen. Die Fachkräftesicherung sei die größte Herausforderung für die hiesige Wirtschaft. Werde diese nicht gelöst, drohe der Fachkräftemangel zur „Vollbremsung für die Innovationen und die Zukunftsfähigkeit“ zu werden, heißt es etwa aus den Reihen der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Und aus Sicht des DIHK „stehen Wachstums- und Wohlfahrtspotenziale ebenso wie öffentliche Einnahmen auf dem Spiel, wenn Personalknappheiten die an sich mögliche Produktion und das Dienstleistungsangebot beschränken.“ 

 

Näherer Blick zeigt differenziertes Bild 

Kein Zweifel, die Fachkräftefrage ist eine zentrale Zukunftsfrage - für Beschäftigte und Betriebe. Ein näherer Blick liefert aber ein differenziertes Bild der Gesamtlage: 

  • Erwerbstätigkeit derzeit auf Rekordniveau: Tatsächlich wird davon ausgegangen, dass das Arbeitskräftepotential in Deutschland aufgrund der demographischen Entwicklung schrumpfen wird. Momentan liegt die Erwerbstätigkeit mit 45,6 Mio. allerdings auf dem höchsten Stand seit der deutschen Einheit. Und jedenfalls für dieses Jahr wird ein weiterer Anstieg erwartet. Das passt nicht zu der mancherorts geäußerten These, dass der Faktor Arbeit aktuell bereits extrem knapp geworden sei. 

  • Fachkräfte-Paradox: Derzeit zeigt sich eine doppelte Herausforderung: Während in manchen Bereichen händeringend Fachkräfte gesucht werden (das gilt etwa für die Gesundheits- und Pflegebranche oder Berufe aus den Bereichen Handwerk, IT sowie Metall und Elektrotechnik) – findet in anderen ein Abbau von Arbeitsplätzen statt. Der Auf- und Abbau von Arbeitsplätzen findet in unterschiedlichen Branchen und Wirtschaftszweigen statt –  teilweise sogar innerhalb einer Branche. So werden in der Automobilindustrie im Bereich des Antriebsstrangs von Verbrennungsmotoren Arbeitsplätze verloren gehen. Gleichzeitig werden im Bereich der E-Mobilität neue entstehen. In der Fachwelt wird von einem Fachkräfte-Paradox gesprochen – gemeint ist damit eine zunehmende Arbeitskräfteknappheit bei gleichzeitigem Arbeitskräfteüberschuss. 

  • Regionale Unterschiede: Regionen unterscheiden sich hierzulande in ihrer Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur und in deren Entwicklung. Entsprechend stellt sich auch die Frage der Fachkräftebedarfe und -rekrutierung bisher regional unterschiedlich dar und es ist davon auszugehen, dass auch künftige Fachkräfteengpässe oder -überhänge regional unterschiedlich ausfallen werden.  

Verlässt man die allgemeine Arbeitsmarkt-Ebene und geht einen Schritt tiefer, wird die Sache nicht weniger vielschichtig. So können auf Ebene der Betriebe Stellenbesetzungsprobleme unterschiedliche Ursachen haben. Sie können Ausdruck eines Fachkräftemangels sein, aber auch ganz andere Gründe haben, beispielsweise eine zu wenig vorausschauende oder auch fehlende Personalplanung und -entwicklung, überhöhte Erwartungen des Arbeitgebers an Bewerber*innen und nicht zuletzt zu unattraktive Arbeitsbedingungen und/oder zu geringe Entlohnung. Ähnlich sieht es auf Seiten der Beschäftigten aus. Qualifikation, Mobilität, eigene Interessen und persönliche Situationen (z.B. Vereinbarkeit) sind nur einige der Faktoren, die Auswirkungen auf die Beschäftigungsperspektiven und die individuelle Verhandlungsposition haben.  

Also: Ja, die Fachkräftefrage ist eine zentrale Zukunftsfrage und ja, in manchen Branchen und Bereichen gibt es aktuell Engpässe. Aber: Eine von mancher Seite eingenommene, rein auf die Arbeitskräfteangebotsseite und die Entwicklung des Erwerbspersonenpotentials fokussierte Perspektive verkürzt die tatsächliche Komplexität der Fachkräftefrage erheblich. 

 

Wer gute Leute haben will, muss gute Bedingungen bieten 

Es gibt eine Reihe breit über die Lager geteilter Vorschläge und Einsichten, wie die Fachkräftefrage gelöst werden kann: Weiterbildung ausbauen, Erwerbstätigkeit von Frauen erhöhen, Arbeitslose fördern und Fachkräftezuwanderung ermöglichen sind einige davon.  

Deutliche Zurückhaltung zeigt sich dagegen im Arbeitgeberlager bei der eigentlich naheliegenden ‚marktwirtschaftlichen‘ Lösung: Den Gesetzen des Marktes zufolge wird ein knapper werdendes Gut teurer. Höhere Löhne und/oder verbesserte Arbeitsbedingungen sind daher erfolgversprechende Strategien für Unternehmen um Mitarbeitende zu gewinnen und an sich zu binden. Doch in vielen Bereichen, in denen derzeit Fachkräfte gesucht werden, lassen sich bisher kaum bis keine besonderen Lohnsteigerungen oder eine deutlich steigende Tarifbindung beobachten – etwa im Handwerk oder in Gesundheitsberufen. Es mag in diesen Bereichen teils auch an ausgebildeten Fachkräften fehlen, viele der vorhandenen Fachkräfte sind aber schlicht nur woanders und wären teils sogar bereit (zurück) zu kommen, wenn die Bedingungen sich verbessern

Doch viele Arbeitgeber, denen die Gesetze des Marktes sonst heilig sind, wollen anscheinend nicht akzeptieren, dass die Ausgangslage am Arbeitsmarkt sich ändert und es endlich Zeit ist Abschied zu nehmen vom Kurs der Deregulierung und Senkung der Lohnkosten. Die Aussicht höhere Löhne zahlen zu müssen, ruft bei manchen vielmehr altbekannte Reaktionen hervor. So warnt die DIHK vor steigenden Arbeitskosten und einer damit einhergehenden Verschlechterung der internationalen Wettbewerbsposition deutscher Unternehmen. Dass dieses Totschlagargument so nicht trägt, weil auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit eine komplexe Angelegenheit ist und diverse Faktoren die Attraktivität eines Standortes bestimmen, wurde oft genug dargelegt (z.B. hier und hier). Nicht zuletzt ist der Faktor ‚zufriedene Mitarbeiter*innen‘ ein nicht zu unterschätzender Wettbewerbsvorteil. 

Auch ansonsten wird die Debatte genutzt um stetig wiederkehrende Forderungen ins Spiel zu bringen. So gehören zum Vorschlagskatalog des Arbeitsgeber-Lagers auch die Erhöhung des Renteneintrittsalters oder einer Flexibilisierung und Verlängerung der Arbeitszeit. Derartige, einseitig zu Lasten der Beschäftigten gehende Forderungen nach einer Verlängerung der Arbeits- und Lebensarbeitszeit müssen wohl vor allem als eines verstanden werden: als ein verzweifelter Versuch, die sich vollziehenden ‚Markteffekte‘ vermeiden oder jedenfalls bremsen und verzögern zu wollen. Ein geeignetes Fundament für einen erfolgreichen solidarischen Weg der Fachkräftesicherung sind sie nicht.  

Und so bleibt die Erkenntnis, dass die Entwicklung des Arbeitsmarktes hin zu einem ‚Arbeitnehmer*innenmarkt, bei dem Arbeitgeber stärker als bisher um Fachkräfte konkurrieren, zwar grundsätzlich die Ausgangssituation der Beschäftigten verbessert. Es ist aber längst kein Automatismus, dass sich dies auch in handfesten Verbesserungen für Beschäftigte niederschlägt. Die Art und Weise, wie sich manche Arbeitgeber gegen naheliegende Reaktionen stemmen, weist vielmehr auf harte Konflikte hin. Auch in Zukunft werden Beschäftigte und Gewerkschaften Interessen mühevoll durchsetzen müssen.