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Zurück zur alten Normalität oder Solidarreformen für eine nachhaltige Zukunft? Darum geht es bei der Bundestagswahl!

Interview mit Hans-Jürgen Urban

 

Am 26. September ist Bundestagswahl. Eine große gesellschaftliche Debatte hat das noch nicht ausgelöst. Kommt die noch?

In der Tat ist das ein sehr merkwürdiger Bundestagswahlkampf. Covid-Krise, Hoffnungen auf einen ungezwungenen Reisesommer und Ängste vor einer Delta-Welle im Herbst prägen die gesellschaftliche Debatte. Und die Parteien haben sich im Wahlkampf bislang darauf beschränkt in kleinen Scharmützeln um die Wählergunst zu buhlen: Verbot von Kurzstreckenflügen, Maaßen-Debatte in der Union, Corona-Maskenaffäre oder Plagiatsvorwürfe rund um das Baerbock-Buch sind bislang die Schlaglichter eines wenig gehaltvollen Wahlkampfs – und wenn es schlecht läuft geht das auch so weiter.

 

Das macht dir offensichtlich Sorge. Worüber sollte denn diskutiert werden?

Nun, wir stehen vor großen gesellschaftlichen Umbrüchen. Die neue Bundesregierung wird in den nächsten vier Jahren die Weichen so stellen müssen, dass die Klimakatastrophe abgewendet wird, die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter auseinandergeht und der notwendige ökologische Umbau nicht ein Heer von sozialen Verlierern produziert. Wir brauchen nicht mehr und nicht weniger als einen radikalen Pfadwechsel in Richtung ökosoziale Nachhaltigkeit! Aber die notwendigen Strukturreformen und Erneuerungspläne werden gar nicht erst öffentlich thematisiert.

 

„Wir brauchen einen radikalen Pfadwechsel in Richtung ökosoziale Nachhaltigkeit!“

 

Haben die Parteien dafür nichts anzubieten? Zur Umwelt und Klimapolitik steht doch bei allen etwas drin.

Das schon, aber auf den genauen Inhalt kommt es an. Ökologische und soziale Nachhaltigkeit erreicht man nicht, indem man auf noch mehr Markt setzt, zur „Schwarzen Null“ zurückkehrt, Zukunftsinvestitionen unterlässt, den Sozialversicherungen einen Beitragsdeckel bei 40-Prozent verpasst und auf die Privatisierung sozialer Risiken setzt. Die wohlfeilen Worthülsen des Unionsprogramms etwa können nicht darüber hinwegtäuschen, dass man zur alten Normalität der Vor-Corona-Zeit zurückkehren will. Und mit dem Marktextremismus der FDP ist an einen sozial gesteuerten Umbau der Industrie, der Beschäftigung sichert und zugleich adäquate Perspektiven für die öffnet, deren Arbeitsplätze nicht erhalten werden können, nicht zu denken.

 

Was gehört denn aus deiner Sicht unbedingt in ein Regierungsprogramm?

Wir brauchen eine Regierung, die sich zum Treiber der sozial-ökologischen Transformation macht. Nötig ist ein handlungsfähiger und aktiver Wirtschafts- und Sozialstaat, der in die Zukunft investiert statt zur „Schwarzen Null“ zurückzukehren. So muss die energetische Basis der industriellen Wertschöpfung umgestellt werden, etwa von fossilen Brennstoffen auf grünen Wasserstoff. Hier ist auch und gerade die Politik gefordert. Darauf zu warten, dass der Markt das schon regelt, wird nicht funktionieren.

 

„Nötig ist ein handlungsfähiger und aktiver Wirtschafts- und Sozialstaat, der in die Zukunft investiert statt zur „Schwarzen Null“ zurückzukehren.“

 

Und was bedeutet das für die Sozialpolitik?

Wir brauchen eine offensive Sozialpolitik, die auf mehr statt weniger Solidarität setzt! Dazu gehören etwa eine Erwerbstätigen- und Bürgerversicherung in der gesetzlichen Renten-, Kranken-, und Pflegeversicherung, in die alle einzahlen – auch Freiberufler, Selbstständige, Beamte und Parlamentarier. Seit mindestens zwei Jahrzehnten liegen Konzepte auf dem Tisch, die die Sozialversicherung gerechter und ergiebiger machen, und Grüne, SPD und Linke unterstützen sie. Es wird darauf ankommen, dass man nicht nur drüber redet, sondern sie endlich auch umsetzt!

 

Und was ist mit der Arbeitsmarktpolitik?

Hier sind die Baustellen ebenfalls groß. Nötig ist eine nachhaltige Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik, die Brücken in die Arbeitswelt von morgen baut und dabei auf sichere und gute Arbeit und nicht auf schnelle Vermittlung ausgerichtet ist. Das verträgt sich natürlich nicht mit dem Zumutbarkeits- und Sanktionsregime des Hartz-IV-Systems. Hartz-IV braucht keine neuen Namen, sondern gehört abgeschafft!

 

Das wird alles nicht zum Nulltarif zu haben sein. Und die Kosten der Corona-Krise sind auch noch nicht beglichen. Verteilungskonflikte sind da doch vorprogrammiert.

Richtig. Bis 2022 werden sich die Corona-Schulden im Bundeshaushalt auf gut 1,3 Billionen Euro auftürmen. Zur Bekämpfung der Krise waren sie notwendig. Aber: wer wird sie begleichen? Wirtschaftsliberale und Kapitalverbände haben sich bereits positioniert: Sie blasen zur Attacke auf den Sozialstaat und drängen die Parteien zu massiven Einschnitte vor allem bei der Rente, in der Pflege und im Gesundheitswesen! Weniger Steuern, weniger Sozialabgaben, weniger öffentliche Daseinsvorsorge mehr Gewinne für sie – das ist ihr Programm. Sie wünschen sich eine „Anti-Sozialstaats-Koalition“ in Berlin. Dieser Plan darf nicht aufgehen!

 

„Wirtschaftsliberale und Kapitalverbände wünschen sich eine „Anti-Sozialstaats-Koalition“ in Berlin. Dieser Plan darf nicht aufgehen!“

 

Die Zukunft der Alterssicherung war eines der wenigen inhaltlichen Themen, die bislang im Wahlkampf angesprochen wurden. Wie bewertest du die Debatte?

Die Alterssicherung in Deutschland ist eine Dauerbaustelle. Zwar konnten insbesondere durch die Mobilisierung von Gewerkschaften und Sozialverbänden einige Verbesserungen erreicht werden. Aber abschlagsfreie Rente nach 45 Jahren, die Rentenniveaugarantie bis 2025 oder die Grundrente beseitigen nicht die Strukturprobleme. Wenn alles so bleibt, dann wird die Regelaltersgrenze weiter steigen und das Rentenniveau ab 2025 sinken. Aber statt an den Problemen anzusetzen, sind besonders jene Stimmen laut, die die Regelaltersgrenzen noch weiter hochtreiben, die gesetzliche Rente kürzen und die Kapitaldeckung ausbauen wollen. Die „enkelfitte Aktienrente der FDP“ vereint all das in sich. Aber auch der „Bürgerfonds“ der Grünen oder die „Generationenrente“ der Union gehen in Richtung mehr Kapitaldeckung und mehr Risiko bei der Altersvorsorge. Das ist der falsche Weg! Wir brauchen keine Aktienrente, keine Generationenrente und keinen Bürgerfonds, sondern eine Stärkung der gesetzlichen Rente. Rauf mit dem Rentenniveau, her mit realistischen Altersgrenzen und flexiblen Ausstiegsmöglichkeiten – und alle zahlen ein!

 

„Wir brauchen keine FDP Aktienrente, keine CDU Generationenrente und keinen grünen Bürgerfonds, sondern eine Stärkung der gesetzlichen Rente.“

 

Die AfD tut gerne so als sei sie eine Arbeiterpartei. Was sagst du dazu?

Wer auf der Flamme von Bürgerwut und Zukunftsängsten seine braune Suppe kochen will, kann mit der Unterstützung der Gewerkschaften nicht rechnen. Während wir für Mindestlöhne, Renten und Arbeit kämpfen, hetzen sie gegen Minderheiten und erklären das tödliche Virus zur banalen Grippe. Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus folgen auf dem Fuß. Wieder einmal! Hier ist Widerstand angesagt: Gegen Menschenverachtung und Dummheit! Wir stehen für Vielfalt, Vernunft und Gerechtigkeit! Jenseits von Geschlecht, Geburtsort, Hautfarbe oder sexueller Identität!

 

Viele sind noch unsicher, ob und wenn ja, was sie wählen sollen. Was rätst du? Wählen gehen?

Wählen gehen alleine wird nicht reichen, man muss auch richtig wählen. Und richtig ist die Unterstützung jener Kräfte, die glaubwürdig den klimagerechten Umbau vorantreiben und die sozialen Interessen abhängig Beschäftigten schützen.